Landtagssitzung am 19.12.2018 | TOP 9: Ein starkes und geeintes Europa für sozialen Fortschritt

Video Landtagsrede am 09.12.2018: Grüner Debattenbeitrag von Dorothea Frederking >>> Antrag der Fraktionen CDU, SPD & BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drs. 7/3740. Der Antrag wird beschlossen. Rede im Wortlaut zum Nachlesen im Transkript:

19.12.18 –

Video Landtagsrede am 09.12.2018: Grüner Debattenbeitrag von Dorothea Frederking >>>

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Antrag der Fraktionen CDU, SPD & BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drs. 7/3740. Der Antrag wird beschlossen.

Rede im Wortlaut zum Nachlesen im Transkript:

Dorothea Frederking (GRÜNE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bisher ist Sozialpolitik Sache der Mitgliedstaaten. Dennoch ist die EU nicht unsozial und hat auch eine soziale Dimension.

Sie hat immer wieder sozialpolitische Maßnahmen auf den Weg gebracht. Zu nennen ist zum Beispiel die Geltung der Krankenversicherung auch im EU-Ausland oder die Entsenderichtlinie, die den Lohn des Mitgliedstaates garantiert, in dem die EU-Bürgerin oder der EU-Bürger berufstätig ist. Das, was ich gerade beschrieben habe, ist natürlich auch eine Maßnahme zum Schutz vor Ausbeutung.

Auch die Gleichheit von Frauen und Männern oder die Nichtdiskriminierung ist fest verankert. Der Zugang zu Berufen kann sogar europaweit eingeklagt werden. Aber vom gleichen Entgelt für gleichwertige Arbeit oder von der Chancengleichheit beim beruflichen Aufstieg sind wir noch weit entfernt.

Genau solche großen Leerstellen hat die EU-Kommission im letzten Jahr aufgegriffen und hat mit dem Papier die europäische Säule sozialer Rechte in 20 Grundsätzen ein neues Grundverständnis im Bereich der EU-Sozialpolitik initiiert.

Diesen Aufschlag begleiteten die 28 Staaten und das Europäische Parlament mit ihrer Zustimmung, allerdings   das haben wir jetzt schon einige Male gehört   völlig unverbindlich. Es wurde eigentlich nur begrüßt. Als Koalition begrüßen wir dieses Anliegen auch und bekennen uns dazu in unserem Alternativantrag. Doch auch damit wird natürlich noch nichts verbindlich.

Ob bis zur Wahl des Europäischen Parlamentes im Mai 2019 noch wesentliche Schritte passieren werden, ist fraglich. Die Auseinandersetzung darüber wird uns sicherlich im kommenden Europawahlkampf begleiten.

Die EU-Sozialpolitik wartet also noch auf ihre Ausgestaltung. Es ist sinnvoll, zu erfahren, wie der Sachstand nun ist und wie die Diskussionslinien auf der EU-Ebene verlaufen.

Wir jedenfalls wollen, dass der soziale Ausgleich und die soziale Sicherheit für alle EU-Bürgerinnen ausgebaut werden. Als GRÜNE wollen wir ganz konkrete soziale Mindeststandards, deren Gewährleistung jede EU-Bürgerin und jeder EU-Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof einklagen könnte, für Grundrechte wie Arbeit, Gesundheit, Rente und Pflege.

Die europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen, ist ein guter Ansatz für das soziale Fortschreiten der Integration Europas. Sie ist in Ihrer Aufgliederung nach 20 Punkten einerseits sehr umfassend, wie sie andererseits doch sehr allgemein gehalten ist.

Wer hat schon - ich greife jetzt mal einen Punkt aus den 20 heraus - etwas gegen die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben? Dagegen hat natürlich niemand was vorzubringen. Aber was bedeutet das konkret? Wozu werden dann die Staaten verpflichtet? Und was hätte EU-weiten Bestand?

Wir GRÜNEN meinen, die EU muss sich auch weiterhin gemeinsame quantitative Ziele im Bereich der Sozialpolitik setzen, wie das im Rahmen der EU-2020-Strategie bereits geschehen ist. Darin hat man beispielsweise festgelegt, welche Ziele angestrebt werden etwa bei der Beschäftigungsquote. Ein Ziel besteht darin, den Anteil der vorzeitigen Schulabgängerinnen auf unter 20 % zu bringen. Bei verbindlichen Zielen wäre dann jeder EU-Staat für die nationale Umsetzung verantwortlich.

An dieser Stelle möchte ich auf die Ausführungen von Herrn Siegmund eingehen. Sie haben ja gefragt, ob das in allen 27 EU-Staaten dann gleich wäre. - Nein, das wäre nicht gleich, sondern es gibt Mindeststandards.

Zum Beispiel könnte ein Mindeststandard sein, dass es einen Mindestlohn gibt. Und jeder EU-Staat legt dann für sich diesen Mindestlohn fest. Der kann natürlich von Staat zu Staat differieren. Also, das ist keine Gleichmacherei und es macht auch Sinn, dass das differiert und dass das abhängig ist von den jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Situationen in den einzelnen Staaten.

Neben dem Mindestlohn ist denkbar, Standards, wie eben eine Mindestrente, eine Grundsicherung oder auch eine soziale Absicherung für geflüchtete Menschen einzuführen oder die finanzielle Unterstützung von Kindern, um Kinderarmut entgegenzuwirken.

Die Personenfreizügigkeit als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union braucht auch eine sozialpolitische Weiterentwicklung. Europäische Bürgerinnen auf Jobsuche in anderen Mitgliedstaaten benötigen Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Die entsprechende Arbeitsagentur in dem jeweiligen Land sollte dann auch für sie eine Anlaufstelle sein.

Den Ansatz, die EU-Verträge um eine soziale Fortschrittsklausel zu ergänzen, begrüßen wir ausdrücklich.


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Frau Frederking, es gibt noch zwei Anfragen; kommen Sie bitte zum Schluss.


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Ich würde gern den letzten Satz noch aussprechen.


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Bitte.


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Mehr Europa bedeutet für uns GRÜNE, dass wir auch vereint sind in Solidarität für ein soziales Europa. Und ein starkes Europa ist auch ein Fels gegen Populismus und Nationalismus. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Frau Frederking, Herr Roi hat sich zu Wort gemeldet. - Herr Roi, Sie haben das Wort.


Daniel Roi (AfD):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Frederking, mal davon abgesehen, dass ich Ihre Parteifreunde, die im EU-Parlament hocken, Herr Cohn-Bendit oder Frau Keller, die sich gern mit der Antifa-Fahne ins Europäische Parlament stellt, fundamental ablehne, möchte ich Ihnen an einem ganz konkreten Beispiel noch mal erklären, warum ich ein Kritiker der Politik bin, die Sie betreiben.

Sie haben jetzt eine Ministerin in Sachsen-Anhalt, nämlich Frau Dalbert als Umweltministerin - sie ist mal wieder nicht da; aber sei es drum - und es gibt ein Problem, das wir in Sachsen-Anhalt haben. Damit beschäftigt sich dieser Landtag, der 87 Abgeordnete bezahlt, um die Probleme der Sachsen-Anhalter zu lösen. Eines dieser Probleme in den Kommunen ist zum Beispiel eine Pflanze, die gefährlich für unsere Bürger ist, der Riesenbärenklau.

Dann gibt es einen Beschluss dieses Landtages und zwei Jahre danach stellt sich diese Ministerin hin und sagt: Wir setzen diesen Beschluss nicht um; wir machen kein Landesprogramm; wir warten noch bis 2019 bis die Europäische Union - das hat sie im letzten Jahr gesagt - dann irgendwann einmal eine Liste fertiggestellt hat; dann werden wir Fördermittel beantragen, um die Probleme in Sachsen-Anhalt zu lösen.

(Zurufe)

Das ist ein Beispiel, an dem wir sehen, dass dieser Landtag gar nicht in der Lage ist, die Probleme in Sachsen-Anhalt für unsere Kommunen zu lösen. Wir warten auf die EU und zeigen auf die EU, um von dort Geld zu bekommen. Damit machen wir uns eigentlich überflüssig. Das ist ein Beispiel für den Wahnsinn, den Sie betreiben. - Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Frau Frederking, Sie haben das Wort.

(Zuruf von Cornelia Lüddemann, GRÜNE)


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Herr Roi, vielleicht haben Sie schon gemerkt, dass ich ein bisschen verwirkt war und es auch gerade eine Interaktion mit meiner Fraktion gab. Ich dachte, ich kann Ihre Aussagen gar nicht glauben, und habe mich versichern müssen, ob ich nicht etwas falsch verstanden habe. Sie haben gesagt, es werde nichts gegen invasive Arten gemacht. Dem ist ja nicht so.

(Zurufe von der AfD)

- Pardon. Es sind ja Gelder im Landeshaushalt für ein Programm eingestellt. Wir haben uns auch im Ausschuss die Liste der invasiven Arten, die in Sachsen-Anhalt bekämpft werden, zuarbeiten lassen. Also, da wird gehandelt. Von daher bin ich jetzt völlig verblüfft über das, was Sie hier in den Raum stellen.

(Zurufe von den GRÜNEN und von der AfD)

Also, wir gehen offensichtlich von unterschiedlichen Annahmen aus. Mir ist nicht bekannt, dass die invasiven Arten nicht bekämpft werden. Mir ist bekannt, die invasiven Arten werden bekämpft.

(Zustimmung bei den GRÜNEN - Zurufe)


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Herr Roi hat noch eine Nachfrage.


Daniel Roi (AfD):

Ich bedanke mich für die Antwort. Das Problem an der Stelle ist ja, nachdem wir das hier mehrfach sogar im Parlament diskutiert haben, Folgendes: Ich möchte Sie daran erinnern, dass der Beschluss des Landtages aus dem Jahr 2015 stammt. Nächstes Jahr haben wir das Jahr 2019. Das sind also ganze vier Jahre, die Sie brauchen, um ein lächerliches Problem für unsere Kommunen zu lösen. Und genau jetzt haben Sie ja bestätigt, dass Sie vier Jahre brauchen, um irgendwas in die Gänge zu bringen.

(Zurufe von der AfD - Widerspruch bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Genau das ist das Problem, was die Leute sehen, dass der Landtag vorher nicht in der Lage war, weil wir erst auf EU-Listen warten mussten.

(Widerspruch bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Das ist das, was Frau Dalbert damals sagte; das ist auch der Kritikpunkt.

(Zuruf von Cornelia Lüddemann, GRÜNE - Zurufe von der AfD)


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Herr Roi, ich glaube, Sie verbreiten gerade falsche Tatsachen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zurufe)

Ich habe jetzt diese Liste aktuell hier nicht vorliegen. Aber ich weiß, dass es diese Liste gibt.

(Zurufe von der AfD)

Die gibt Auskunft darüber, welche invasiven Arten derzeit schon durch die Behörden des Landes bekämpft werden. Und es ist mitnichten so, dass das vier Jahre dauert; denn das ist ja ein Prozess, der schon in den vergangenen Jahren begonnen hat. Von daher sind das wirklich falsche Tatsachen, die Sie hier in den Raum stellen.

(Beifall - Unruhe)


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Frau Frederking, Herr Siegmund hat sich noch zu Wort gemeldet. - Herr Siegmund, Sie haben das Wort.


Ulrich Siegmund (AfD):

Liebe Kollegin Frederking, ich habe noch mal eine Frage zu den Ausführungen, die wir beide eben gerade schon im Dialog hatten und worauf Sie mich persönlich noch mal angesprochen haben. Sie haben in Ihrer Rede ganz klar gesagt - das kann man später auch zitieren  , dass Sie einen verbindlichen Mindeststandard für ganz Europa oder für die EU einführen wollen, beispielsweise bei der Altersvorsorge.

Erste Frage. Wie hoch soll dieser Standard sein? Und zweite Frage: Ist es denn nicht ein Widerspruch, wenn Sie danach sagen: Na ja, es soll nur generell Mindeststandards geben, aber die soll jedes Land für sich selbst aussuchen? Was machen Sie denn, wenn Rumänien oder Bulgarien entscheiden, dass sie als Standard 1 € festlegen und sagen, wir haben einen Standard? Was machen Sie denn dann? - Das ist die erste Frage.

Die zweite Frage ist: Welcher Standard soll bei der Altersversorgung in Europa herrschen?


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Der Mindeststandard ist die Verbindlichkeit - und jetzt nenne ich wieder ein Beispiel - überhaupt einen Mindestlohn zu haben. Das ist der Standard. Die Länder müssen einen Mindestlohn einführen. Bleiben wir jetzt mal bei diesem Beispiel. Jetzt fragen Sie nach der Höhe. Der Mindestlohn muss selbstverständlich so bemessen sein, dass davon auch ein angemessenes Leben geführt werden kann. Das ist in diesen 20 Grundsätzen ausgeführt; die sagen das auch schon aus.

Die Höhe ist dann natürlich von den entsprechenden Lebenshaltungskosten in dem jeweiligen Mitgliedstaat auch abhängig. Ich überspitze jetzt mal. Wenn es einen Mitgliedstaat geben sollte, wovon ich jetzt nicht ausgehe, bei dem man von einem Mindestlohn von 1 € leben könnte, dann wäre das ein ausreichender Mindestlohn.


Ulrich Siegmund (AfD):

Danke schön.


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Frau Frederking, Herr Borgwardt hat sich noch zu Wort gemeldet.


Siegfried Borgwardt (CDU):

Frau Frederking, Ihre letzten Ausführungen haben mich jetzt doch zu einer Nachfrage bewegt. Wenn Sie das sagen, dass das dann immer ein Äquivalent sein muss zu den jeweiligen Bedingungen, die man in dem Land hat, dann würden Sie also unseren Antrag unterstützen, dass wir das Kindergeld für die Kinder, die in Rumänien leben, dann nicht nach unserem Standard bemessen; denn das ist ja so viel, wie dort ein Chefarzt verdient.

(Beifall bei der CDU)

Würden Sie mir darin recht geben? So, wie Ihre Argumentation war, müsste das dann auch stringent für die Sozialleistungen, zum Beispiel für das transferierte Kindergeld, gelten.

(Unruhe)


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Na ja, wir haben bei Ihrem Beispiel, das Sie gerade bemühen, zwei Aspekte, zum einen den Aspekt des Kindergeldes, das an die berufstätigen Eltern gekoppelt ist, und zum anderen die Frage, in welchem Mitgliedstaat die Eltern arbeiten. Das sind zwei verschiedene Aspekte. Die muss man dann vernünftig miteinander in Verbindung bringen.

Aber zurzeit ist die Rechtsprechung auch so, dass das Kindergeld in dem Land gezahlt wird, in dem die Eltern berufstätig sind.


Siegfried Borgwardt (CDU):

Frau Frederking, ich mag Menschen, die versuchen, intelligent zu argumentieren. Ich komme noch einmal zurück.


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Die es versuchen.

(Zurufe von der AfD)


Siegfried Borgwardt (CDU):

Das trifft alles für diejenigen zu, die bei uns arbeiten; sie bekommen das Kindergeld für die Kinder, die in diesem Sozialsystem     Ihr Gedanke war vorhin - ich wiederhole das noch einmal -: Man muss das ins Verhältnis setzen zu dem, was in dem entsprechenden Land als Sozialstandard gilt. Deswegen habe ich nachgefragt.

Wir reden nicht über den Sozialstandard in Deutschland - das ist klar. Es ist dabei unwichtig, ob das Kindergeld dann ein Ausländer bekommt oder wer auch immer; das ist völlig unwichtig. Das ist Standard. Aber wenn Sie das Geld gar nicht für das Kind, das in dem Land lebt, ausreichen, sondern nach Rumänien transferieren, dann entspricht es dort dem Gehalt eines Chefarztes.

Wie Sie es gesagt haben, müsste das eigentlich so sein. Ansonsten, sehr geehrte Frau Frederking, ist Ihre Argumentation nicht schlüssig.

(André Poggenburg, AfD: Richtig!)


Vizepräsident Willi Mittelstädt:

Frau Frederking, Sie haben noch einmal das Wort.


Dorothea Frederking (GRÜNE):

Herr Borgwardt, dann versuche ich es einmal mit einer anderen Schlüssigkeit. Ich weiß, dass auch Sie Kinder haben, die auch einmal etwas jünger waren. Jetzt versetzen Sie sich noch einmal in die Situation: Kurz nach dem Abitur - damals bekamen Sie für Ihre Kinder noch Kindergeld - haben sich Ihre Kinder entschlossen, ein Jahr im Ausland zu verbringen. Welches Kindergeld haben Sie dann für diese Kinder bekommen? Das deutsche Kindergeld oder das Kindergeld aus dem Land, in dem sich Ihre Kinder aufgehalten haben?

Sie haben natürlich das Kindergeld gemäß der Bemessungsgrundlage in Deutschland bekommen.

(Zurufe von der AfD)

Das Kindergeld bemisst sich zurzeit immer noch an den Grundlagen des Landes, in dem die Eltern arbeiten.

(Zustimmung bei den GRÜNEN)